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Diesmal echt philosophisch, d. h. viele Fremdwörter und keine Rechtschreibreform Die Menschen lassen sich im Großen und Ganzen in zwei Kategorien einteilen. Der weitaus größere Teil (die sogenannten anderen, also vermutlich auch Du, liebes Lesewesen) fristet das Leben mit Müh' und Not. Der kleine Rest (in der Hauptsache also ich) nutzt seine knappe Zeit, um in Tiefen der Erkenntnis vorzudringen, die nie ein Mensch zuvor gesehen hat. So bin ich schon vor einigen Jahren bei einer Kontemplation über die letzten Dinge des Lebens auf eine Theorie gestoßen, die praktisch alle wesentlichen Probleme der modernen westlichen Welt erklärt. Trotzdem ist sie so einfach, daß ich es wagen kann, sie hier zu veröffentlichen. Wie so oft geht es um eine andere Betrachtungsweise von altbekannten Tatsachen: In Tageszeitungen finden sich immer wieder mal Tabellen, in denen die durchschnittliche Lebenserwartung in verschiedenen Ländern aufgeführt ist. Wir Deutschen stehen immer recht weit vorne. Wenn wir auch nicht unbedingt die Spitze erreichen (das schaffen wir dann ja beim Biertrinken), so leben wir ja allemal länger als z. B. die Neger und vor allem -- wir haben ja schließlich hart dafür gearbeitet -- länger als unsere Vorfahren. Wenn man nur weit genug zurückgeht, haben die mal gerade ein paarunddreißig Jährchen gelebt. Heute hingegen leben wir mehr als doppelt so lange, und das ist doch immerhin was. Doch ich erkannte, daß das gar nicht stimmt. Wir leben heute überhaupt kein bißchen länger als die Cro-Magnons. Stattdessen sterben wir einfach nur viel länger. Eine Agonie von fast vierzig Jahren mag auf den ersten Blick absurd wirken, aber schauen wir uns doch die Fakten an: wie lebt denn ein durchschnittliches vierzigjähriges Deutsches? Tagsüber wird ein sinnloser Job abgerissen, den ein dressierter Affe vermutlich ablehnen würde, weil er ihm zu stumpfsinnig fände. Abends wird dann im idealerweise angesparten Eigenheim (oder besser gesagt: Mausoleum) vor dem Fernseher abgehangen und der Geist mit Dosenbier betäubt, was als Sehnsucht nach dem realen Zustand (sprich: Nichtexistenz) betrachtet werden kann. Auf jedem Fall dürfte es eine Mumie in der Pyramide in etwa genauso lebendig haben. Einmal im Jahr macht Homo Sapiens Sapiens Urlaub. Natürlich möglichst immer an der gleichen Stelle (Stichwort Wolfgangssee), und wenn irgendwo das Leben in die heile Scheinwelt einbricht, wird der Veranstalter verklagt. Nun existiert natürlich der Einwand, daß es auch Zwanzigjährige gibt, die so leben bzw. sterben, und wiederum manche Fünfzigjährige das nicht tun. Aber diese scheinbaren Ausnahmen sind eben gar keine, sondern bestätigen nur meine Therorie. Schließlich gab es auch unter unseren Vorfahren welche, die schon mit zwanzig das Zeitliche segneten, während andere noch mit fünzig fidel von Ast zu Ast hüpften. Interessant ist auch, daß diese individuelle lebensgeschichtliche Zombiisierung inzwischen schon auf die Gesellschaft durchgeschlagen hat. Das dürfte an sich niemanden verwundern, ist doch die durchschnittliche Sterbezeit schon länger als die durchschnittliche Lebenszeit. Deshalb gehören eben auch fast alle EntscheidungsträgerInnen zur Untotenfraktion. Wie die Individuen sich immer mehr auf Besitz statt auf Er-Leben (sprich Haben statt Sein, um hier mal ein bißchen klug zu zitieren) konzentrieren, so geht auch das Streben der Gesellschaft immer stärker dazu, Leben im eigentlichen Sinne -- also als mit Risiken behafteten Existenzkampf -- nicht mehr stattfinden zu lassen. Ein gutes Beispiel dafür ist die Erfindung des Computers. Er ist als pseudolebendige Maschine erschaffen und kann uns daher eine größere Last des Lebens von der Schulter nehmen als alles vor ihm (von Kindern vielleicht abgesehen, die aber dummerweise irgendwann einen eigenen Willen entwickeln oder gar selbst anfangen, zu sterben, was inzwischen zu einer echten Konkurrenzsituation geführt hat). Schon heute ist abzusehen, daß der Computer als Lebensfilter prima geeignet ist. Virtuelle Realität (also eine Realität, die mensch einfach ausschalten kann) und Cybersex (der mit der richtigen Sache ungefähr soviel zu tun hat wie Im-Sitzen-pinkeln mit Emanzipation) seien hier mal exemplarisch genannt. So, liebe Leute, das war's für heute. Die Idee sei euch geschenkt, Zeit, daß ihr selber denkt (wenn's denn noch geht, sonst ist's zu spät). |