Rammis
Rüde
Rubrik

1/1996

Winterzeit -- Märchenzeit

Es war einmal ein idealistischer und ökologiebewußter junger Bursche, der war Fahrradaktivist, Mitglied in einer Verbraucher-Erzeuger-Genossenschaft und nicht zuletzt Mitarbeiter einer Zeitung, die die Erhaltung unserer natürlichen Umwelt im Namen führt (sagen wir mal: dieser hier). Dieser meist freundliche Knabe schwang sich allmorgendlich in aller Mondgöttinsfrühe auf sein Kleinfeinfaltfahrrad, radelte zu einem kleinen Bahnhof seiner Stadt (sagen wir mal: dieser hier), wo er sein Kleinfeinfaltfahrrad kleinfein zusammenfaltete und sich in die Tut-Tut-Eisenbahn setzte, die ihn in eine andere Stadt brachte, in der wilde Tiere in ihren Trutzmauern hausten.

Dorten faltete er sein Kleinfeinfaltfahrrad feinfein auseinander, radelte durch gefährliche Schluchten und begab sich schließlich in ein großes Haus, wo er den lieben langen Tag zusammen mit den wilden Wesen schlimme Dinge trieb und falsche Götzen anbetete (sagen wir mal: er verkaufte Automotoren). Die Götzendiener und Dienerinnen gaben dem Burschen Gold, doch weniger, als sie selbst sich nahmen, denn so böse waren sie.

Des abends, wenn die Sonne sich mit Schrecken von diesem Schauspiel abwandte, begab sich der vom schlimmen Treiben ermattete Kerl auf seinem Kleinfeinfaltfahrrad und mit der Tut-Tut-Eisenbahn den ganzen weiten Weg wieder zurück in seine Heimatstadt, um dorten wieder gute Dinge zu tun.

Und wenn er nicht gestorben ist, dann wird er hoffentlich bald damit aufhören.

Die treue Leserin dieser Rubrik (hallo, Elke, hast Du es schön kuschlig im Bett?) ahnt schon mit grausiger Klarheit: ein Märchen ist's nicht, sondern die Wahrheit. Da ich dem Burschen zB schon genug Dinge persönlich an den Kopf geworfen habe, sei in dieser Rubrik über diesen Teil der Affäre das Mäntelchen des Schweigens gedeckt. Betrachten wir das Ganze lieber mal von der anderen Seite:

Vernachlässigen wir mal die durchaus verlockende These, das Autofahrende im Allgemeinen und Autoherstellende im Besonderen völlige Dumpfbacken sind (zu viele Abgase eingeatmet) und sowieso nix mitbekommen (Tunnelblick), so stellt sich doch die Frage, was sie dazu trieb, jemanden wie den obigen Burschen, der aus seinen Aktivitäten gar keinen Hehl machte, einzustellen, während sie gleichzeitig anderen, sogar mit besseren Noten, den Laufpaß gaben. Besitzen sie tatsächlich eine derart perfide Autobauer(n)schläue, daß sie erkennen, daß ihnen mit einem moralischen Menschen, wenn er sich überhaupt auf ihr Handeln einläßt, allemal mehr gedient ist als mit einem x-beliebigen, typisch egomanen Exemplar unserer Ellenbogengesellschaft? Das ihnen der Blick über den Tellerrand durchaus nützlich sein kann (beispielsweise der Ökogolf für Pendler inklusive Faltfahrrad für autofreie Innenstädte (Tantiemen für die Idee bitte auf das übliche Konto))?

Wenn das wirklich so ist, dann sind sie uns Moralisten evolutionstechnisch überlegen, denn wir dulden schließlich keine AbweichlerInnen in unseren Reihen und werden demzufolge an Inzest eingehen. Also laßt uns wohl besser bei der Dumpfbacken-Theorie bleiben.

Da ich sowieso schon mal dabei bin, die Kurzsichtigkeit in den eigenen Reihen zu geißeln, möchte ich hier noch einen wichtigen Kritikpunkt an der Ampelaktion (siehe letzte UMWELTZEITUNG) anbringen, den in unseren Kreisen wahrscheinlich wieder mal niemand gesehen hat:

Mit den momentanen Ampelschaltungen ist ein nicht zu unterschätzendes Sport- und Gesundheitsprogramm verknüpft, das sogenannte Ampelsprinttraining (AST). Dies sieht zum Beispiel jährliche Verkürzungsraten der FußgängerInnen- und RadfahrerInnen-Grünzeiten um 2% vor, um so die Braunschweiger Bevölkerung langsam an verschärfte Trainingsbedingungen zu gewöhnen. Nach noch unveröffentlichten Berechnungen der Braunschweiger Gesundheitsbehörde würde eine abrupte Erhöhung der Grünzeiten bei den Fußgängerampeln um 50% mit einer Erhöhung der Herzinfarktrate um immerhin 17% einhergehen, das durchschnittliche Körpergewicht Braunschweiger FußgängerInnen würde um 6% steigen und uns entgingen so aufregende Schlagzeilen wie "Braunschweiger Seniorinnenmannschaft gewinnt Olympischen Staffellauf", mit denen circa im Jahre 2010 zu rechnen ist. Angesichts dieser Tatsachen fordere ich hiermit die sofortige Einstellung der Postkartenaktion und Ersatz durch progressive Forderungen wie z.B. "Erhöhung der jährlichen Grünzeitverkürzungsraten im AST auf 5%".


Rammi
Rächer der Rüden und Ruchlosen